Sonntag, 15. Januar 2006

von der idylle zum kitsch
Mit Wort und Musik startete das Festival „tonart“

Von Jürgen Hartmann - Rezension für die Esslinger Zeitung (Konzert am 15.01.2006)

„Zustand eines friedlichen und einfachen Lebens, in meist ländlicher Abgeschiedenheit“, so charakterisiert der Fremdwörterduden den Begriff „Idyll“. Mit „Idyllen“ (das wiederum sind künstlerische Beschreibungen jenes Zustands) beschäftigt sich derzeit das Festival „tonart“ in Esslingen. Das Thema in Wort und Musik umrissen haben die vier Vorstände des neu gegründeten Trägervereins und zwei Gastkünstler bei der sonntäglichen Eröffnung der dreiwöchigen Veranstaltungsreihe im Kaisersaal des Amtsgerichts.

Albrecht Imbescheid, Klaus Sebastian Dreher, Bernard Tewes und Frank Wörner dürften sich über den Zuspruch des Publikums für das aus Wort und Musik gemischte Programm gefreut haben. In einem lockeren, pointierten Vortrag arbeitete Tewes eine im modernen Bewusstsein eher verdrängte Bedeutung der Idylle heraus – jene des Gegenentwurfs, der nicht nur träumerisch ein besseres Leben heraufbeschwört, sondern auch politische Alternativen enthalten kann. Allerdings, so warnte Tewes: „Es sind und bleiben Bilder“ – zwischen Wirklichkeit und Idylle befinde sich notwendig eine „unsichtbare Mauer“. Versuche man diese niederzureißen, begebe man sich auf das Niveau der „tränentreibenden Trivialliteratur“ und lande beim Kitsch.

Mit solcherart geschärften Sinnen hörte man George Crumbs abschließende Komposition „An Idyll fort he Misbegotten“ von 1985 nicht mehr ganz unvoreingenommen. Die dem Stück zu Grunde liegende, sozusagen ur-grüne Idee des Widerspruchs von unschuldiger Natur einschließlich Tierwelt einerseits und einer zerstörerischen Menschheit andererseits scheint ein wenig angestaubt, und die schematische musikalische Darstellung dieses Gegensatzes tut ihr Übriges, um das Stück zum Zeugnis einer Ideologie von gestern werden zu lassen: Unschuldig-hilflos zwirbelt die Flöte herum, mal dunkel-dräuend, mal aggressiv fahren die Schlagzeugbatterien hinein, und zum Schluss keimt leise (Flöten-)Hoffnung: Das ist in der Tat kitschgefährdet, wenngleich von Albrecht Imbescheid und den drei Schlagzeugern Klaus Sebastian Dreher, Michael Kiedaisch und Jürgen Spitschka sachkundig und makellos musiziert.

Da waren die Kompositionen von zwei der Festivalchefs ehrlicher, geradliniger. Imbescheids von 1981 datierendes Stück „Agnayah“, vom Komponisten mit drei verschiedenen Flöten gemeinsam mit Dreher am Schlagzeug vorgestellt, beginnt freundlich und klangschön, um im zweiten Teil recht drastisch zu werden. Dabei werden Schlagzeug und Flöte viel differenzierter eingesetzt als bei George Crumb. Aus Drehers Oeuvre stellten der Bariton Frank Wörner und Michael Kiedaisch am Schlagzeug die Vertonung von drei Gedichten Erich Mühsams vor, einem 1934 von den Nationalsozialisten ermordeten linken Publizisten. Die Tradition des Kunstlieds leugnet Dreher nicht, silbengetreu und sparsam hat er Mühsams Texte in Musik gesetzt. Höchst individuell jedoch gestaltete der Komponist die Begleitung und ersetzte das traditionelle Klavier durch ein Vibraphon – so erhielten die von Frank Wörner textverständlich und klangschön vorgetragenen Lieder eine besondere, geheimnisvolle Aura.

http://www.esslingen.de/servlet/PB/show/1192998/Tonart2006.pdf (Programm als pdf-Datei)

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brüche und brücken oder der zweite und der dritte blick
Mehr als berühmte Namen: Die vier Gastdirigenten im Dezember - Beitrag für das Magazin der Berliner Philharmoniker (November 2005)

Von Jürgen Hartmann


Je mehr Künstlerbiografien man liest, umso ähnlicher scheinen sie zu werden. Man kennt sie ja gut, jene Texte, die auf Grund von Marketingüberlegungen, Personal- und Zeitmangel, Vorgaben von Agenturen oder schlichter Nachlässigkeit zum Verwechseln austauschbar sind: An den langen Listen vom Zusammenwirken mit "namhafen" Kollegen, "berühmten" Orchestern und "großen" Schallplattenlabels ist dann bestenfalls noch interessant, ob sie ein Geburtsjahr enthalten oder nicht.

Würde man die vier Dirigenten, die im Dezember gastweise ans Pult der Philharmoniker treten, nur oberflächlich vergleichen, träte eben diese Wirkung ein: Selbstverständlich sind Seiji Ozawa, Mariss Jansons, Daniel Barenboim und Zubin Mehta – "in the order of appearance" – solide ausgebildet. Natürlich hat sie ihre Karriere zu den besten Orchestern der Welt geführt. Klar ist auch, dass es von ihnen Aufnahmen gibt, die Maßstäbe gesetzt haben. Wären wir damit am Ende der Durchsage angelangt, und wiesen wir noch darauf hin, dass alle vier regelmäßig in der Philharmonie erscheinen – wir könnten mit den Worten schließen: Schön, dass sie wieder da sind.

Man kann sich aber auch die Zeit für einen zweiten Blick nehmen. Und dieser trifft auf viel interessantere, weniger selbstverständliche Gemeinsamkeiten. Es fällt auf, dass sie lange bei Orchestern verweilten und diese musikalisch prägten und zu neuem Ruhm führten: Ozawa war ab 1973 fast drei Jahrzehnte hindurch Chef des Boston Symphony Orchestra, Jansons nahm sich 1979 der bis dahin eher mittelprächtigen Osloer Philharmoniker an und blieb bis zur Jahrtausendwende dort. Und für Barenboim und Mehta verstand es sich wohl auch nicht von selbst, dass sie sich in Berlin und München eng an die Schicksale von Opernensembles banden.

Obwohl Dirigenten dieser Liga natürlich weiterhin in aller Welt gastieren und sich gewiss nicht an einem gemütlichen Ort zur Ruhe setzen möchten, sind Berlin, München und Wien womöglich doch so etwas wie Ruhepole, zumindest Gravitationszentren geworden. Denkt man darüber nach, öffnet sich ein weiterer, gleichsam der dritte Blick auf die Karrieren und Persönlichkeiten dieser "großen Vier". Es gab Brüche in ihren Laufbahnen, sie haben verschiedene Welten kennen gelernt, und sie wollen, nicht zuletzt aus dieser Erfahrung heraus, Brücken bauen.

Mariss Jansons, 1943 in Riga geboren und zunächst dort aufgewachsen, erfuhr eine, wie er sagt, "dramatische Änderung" in seinem Leben mit dreizehn, nachdem sein Vater Frau und Sohn nach Leningrad holte. Dort war Arvid Jansons, ebenfalls ein berühmter Orchesterchef, seit 1952 als Dirigent tätig. Im Vergleich zu der stark von der deutschen Kultur geprägten Hauptstadt der damaligen "Sowjetrepublik" Lettland, wo noch Jansons' Mutter eine deutsche Schule besucht hatte, wehte in Leningrad ein anderer Wind: "Ich habe sehr schlecht Russisch gesprochen und auch die Mentalität war ganz anders", sagt Jansons in einem Interview, und fügt hinzu: "Ich habe oft geweint." Auch die Spezialschule für Musik war eine zwiespältige Erfahrung: "Man hat zwar keine Kindheit, man lernt aber sehr viel", kommentiert der Dirigent. Jansons weiß aber genau, dass ihm dieser Drill, dem sich die ähnlich harte Ausbildung und Assistenz bei Jewgeni Mrawinski anschlossen, letztlich genützt hat und er somit vom bürgerlichen Riga persönlich und vom kommunistischen Leningrad beruflich zehrt: "Behutsam und fordernd gleichzeitig", so hat Mirko Weber in der "Zeit" Jansons' Arbeit in Oslo beschrieben, wo er ein Orchester an die Spitze geführt, "zu sich selbst" gekommen sei und kultiviert habe, "was ihn immer noch auszeichnet: Er kann Orchester richtig temperieren."

Als Seiji Ozawa 1973 Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra wurde, fragten sich nicht wenige, ob ein Musiker aus Asien den dortigen Anforderungen gewachsen sei. Man hüte sich, das als gleichsam historisches Vorurteil abzutun: Immerhin war es vielen Zeitungen in diesem Sommer eine Meldung wert, dass mit Ozawas japanischem Landsmann Eiji Oue erstmals ein asiatischer Dirigent bei den Bayreuther Festspielen auftrat. Seiji Ozawa hat mit seinem Tun in Boston die Vorbehalte zwar schnell wegdirigiert, aber die kulturelle Differenz und der Umgang mit ihr beschäftigen ihn bis heute. 1992 gründete er das Saito Kinen Festival, das in Erinnerung an seinen Lehrer in Tokio, Hideo Saito, dessen Bestreben fortführen soll, die "westliche" Musik und deren Prinzipien in Japan zu kultivieren und umgekehrt auf Tourneen den Standard der japanischen Ausbildung zu bezeugen.

Wie Mariss Jansons ist auch Zubin Mehta Sohn eines renommierten Dirigenten. Sein Vater Mehli Mehta hatte 1935, genau ein Jahr vor Zubins Geburt, in Bombay das erste Sinfonieorchester Indiens gegründet. Die Herkunft der Familie prädestiniert sie zum kulturellen Brückenbau: Zubin Mehta ist ein Parse, gehört also der von Zarathustra im alten Persien gestifteten Religion an, deren Anhänger im 8. Jahrhundert nach Indien einwanderten. Einen wichtigen künstlerischen Mittelpunkt fand Zubin Mehta aber, nachdem er die Berliner und Wiener Philharmoniker als jeweils jüngster Dirigent aller Zeiten geleitet hatte, an einem auf den ersten Blick überraschenden Ort: In Tel Aviv, dem Sitz des Israel Philharmonic Orchestra, das ihn 1977 zum Musikdirektor ernannte und ihm diese Position nur vier Jahre später auf Lebenszeit antrug. Die Macht der Musik stellte Mehta unter Beweis, als er mit diesem Klangkörper in seine indische Heimat reiste und so dazu beitrug, dass sich die Beziehungen zwischen den beiden Ländern wieder zu erwärmen begannen. 1988 führte er die New Yorker Philharmoniker mit einem Moskauer Orchester zusammen, und 1994 musizierte er Mozarts Requiem in den Ruinen der Nationalbibliothek von Sarajevo.

Am spektakulärsten aber hat Daniel Barenboim gezeigt, wozu Musik gut sein kann. Und sich dafür sogar mit seinem Staatsoberhaupt angelegt, denn der israelische Präsident Moshe Katzav mochte wie viele andere nicht goutieren, dass Barenboim ausgerechnet die israelische Unabhängigkeitserklärung ins Feld führte, um für eine Verständigung mit den Palästinensern zu werben. Wer aber im August dieses Jahres im Radio die Übertragung eines Konzertes aus der palästinensischen Stadt Ramallah hörte, wo Barenboim das 1999 von ihm mitgegründete West-Eastern Divan Orchestra leitete, den hat dieser versöhnende Geist angeweht: Die Begeisterung, mit der dieser aus vielen Nationen des Nahen Ostens und Europas zusammengesetzte Klangkörper erstmals dort spielte, wo Barenboims Absichten besonders weit von ihrer Verwirklichung entfernt scheinen; der Applaus zwischen den Sätzen von Beethovens Fünfter und, auch das, der gewisse Abstand von der schieren Perfektion – das setzte eine eindrückliche Marke auf dem steinigen Weg zum Frieden.

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